
Unser schweres evolutionäres Erbe
Beginnen wir mit einer kurzen Geschichte aus der Welt der Biologie, eine Geschichte über die „Seescheide“, ein winziges Quallen-ähnliches Tier. Die Larve kommt mit einem einfachen Rückenmark und einem aus 300 Neuronen bestehenden „Gehirn“ zur Welt. In den ersten 12 Stunden ihres Lebens muss sie eine Koralle finden, auf der sie sich niederlassen kann. Sobald sie diese Reise erfolgreich beendet hat, und jetzt wird es richtig spannend, frisst das Tierchen sein Gehirn einfach auf, denn es wird nicht mehr gebraucht. Beschrieben haben das nicht etwa die Gebrüder Grimm, sondern der Neurophysiologe Rodolfo Llinas, und das bereits 2002. Sein Schluss daraus: Was wir denken nennen, ist die evolutionäre Internalisierung von Bewegung.
Um es kurz zu machen: Die Idee machte Karriere und gewann seither in zahlreichen Disziplinen von der Psychologie über die Anthropologie bis hin zur Soziologie immer mehr Befürworter. Klar, als unsere Vorfahren die Bäume verließen, um die Savanne zu erkunden, brauchten sie zu ihren Beinen auch einen Apparat, der die neuen Eindrücke ordnete: Das Gehirn. Gehen und Denken sind also wahrscheinlich zeitgleich entstanden – es liegt nahe, hier Wechselwirkungen zu vermuten. Und sprechen Sie mal ohne Motorik. Die positiven Wirkungen des Gehens auf das Denken waren übrigens bereits Aristoteles klar – er führte Gespräche mit Schülern beim Umherwandeln im Peripatos, der Wandelhalle, weshalb seine philosophische Schule auch die der Peripatetiker genannt wird. Wenn Sie zu den Menschen gehören, die nicht alles für erlogen oder verschworen halten, dürfen Sie Folgendes als gesichertes Wissen abspeichern:
Durch Bewegungsmangel leidet die geistige Leistungsfähigkeit – durch Bewegung steigt sie (Mehr Info hier). Wobei, das sei hinzugefügt, das monotone Laufen auf einem Laufband diesen Effekt nicht zeitigt, Sie brauchen eine wechselhaft reizvolle Umgebung dazu. Noch hat unser Planet die ja in schrumpfender Menge, sie heißt Natur, da klappt das am besten. Darüber hinaus schenkt sie uns Gesundheit, wie immer mehr Studien belegen. Noch können Sie verhältnismäßig leicht ein schönes Stück davon erwischen …

Vom Homo sapiens zum Homo sedens
Noch vor 5 Generationen sollen die meisten Menschen ca. 20 Kilometer pro Tag zurückgelegt haben. Heute bringen wir es mit viel Engagement durchschnittlich noch auf 1 Kilometer. Lustigerweise heißt das Fortschritt. Fortgeschritten ist allerdings nur unsere Sitzleistung, die neuesten Zahlen nach bei 9 – 11 Stunden am Tag liegt. Und während dieser Stunden in der Sitzfalle fragen wir uns, warum bei den wichtigsten Dingen auf der Welt nichts vorwärts geht und wir selbst den Allerwertesten nicht hochbekommen, um uns zu engagieren. Hey, Sie kennen jetzt die Antwort, sie ist ganz einfach! Aristoteles müsste heute bei einem Callcenter anheuern, um irgendwie durchzukommen – und im „Homo sedens“ setzt sich immer mehr das evolutionäre Erbe der Seescheide durch. Was boomt, sind wenig originelle Standpunkte von dauersitzenden Artgenossen, die offenbar dabei sind, ihre eigenen Gehirne zu fressen. Wir brauchen das Gegenteil - sieht nicht gut aus.
Nur wenn sich viele bewegen …
… dann bewegt sich was in der Welt. Aus diesem Grund nennen wir eine wachsende Gruppe Gleichgesinnter, die etwas erreichen möchte, auch "Bewegung". Sinnigerweise nennt Sarah Wagenknecht die von ihr mitgegründete Bewegung "Aufstehen", was auf dem aktuellen Hintergrund ja durchaus Sinn macht - schöner Versuch! Die verkürzten Diskussionen darüber, ob individuelle Bemühungen zum Klima-, Arten- oder Umweltschutz etwas „bringen“, hätten ein Ende. Es ist so logisch wie nachgewiesen, dass sich Handlungen auf den Geist auswirken, empfundene Selbstwirksamkeit ist ein unglaublich befriedigendes psychisches Elixier. Und wenn viele handeln, dann ändert sich mithin nicht nur ihr eigenes, sondern auch das gesellschaftliche Bewusstsein - und plötzlich ist normal und selbstverständlich, was vorher undenkbar war oder sogar als verrückt galt. Neue, andere Ideen können entstehen. Dem können sich auch Politik und Wirtschaft nicht entziehen. Es macht aus vielen Gründen Sinn, sich aus der Komfortzone zu bewegen – alles Neue beginnt so.
„Man sollte nie daran zweifeln, dass eine kleine Gruppe kluger, engagierter Bürger die Welt verändern kann. In der Tat ist das der einzige Weg, der jemals Erfolg hatte.“ (Margaret Mead, Ethnologin)
Seien Sie bitte nicht fatalistisch, negativ und hoffnungslos – wir erleben das zunehmend. Als Spezies haben wir es zwar fast vergeigt hier auf unserem wundervollen außergewöhnlichen Planeten, aber noch haben wir Chancen, das Ding zu drehen.
Aber dafür müssen wir uns endlich bewegen.