Das Betriebssystem, das uns alle blind macht

So richtig auf dem Holzweg

 

Natürlich können wir uns nicht über alles permanent Gedanken machen, das würde überfordern – und so tragen wir aus praktischen Gründen alle ein Set von Grundannahmen in unserem Oberstübchen mit uns rum. Sozusagen das Betriebssystem hinter unserer Wahrnehmung. Dafür sind wir blind, denn es fließt in unsere Wahrnehmungen ein, die bekanntlich ja Konstruktionen sind. Stellen wir doch einfach mal hypothetisch die Frage, ob das da oben so alles seine Richtigkeit haben kann, wenn wir geschlossen stramm machtlos in Legionen auf dem Holzweg in eine befürchtet düstere Zukunft gehen? Wir haben da unsere begründeten Zweifel …


„Jede Kultur wird durch die Suggestion eines unsichtbaren Hypnotiseurs zusammengehalten -

durch künstlich erzeugte Illusion. (William Butler Yeats)


Wenn Zweifel an der Illusion nagt

 

Nehmen wir doch einfach mal die zwei beherrschenden Lehren unserer Zeit: Die eine ist der (Neo-)Darwinismus mit seiner Idee der biologischen Optimierung und der Annahme, dass funktionelle Anpassungen biologische Vielfalt erschaffen. Die andere ist der (Neo-)Liberalismus mit seinem Konzept der ökonomischen Effizienz, durch die Wohlstand und gerechte Verteilung möglich werden sollen. Über mehr als 150 Jahre haben sich beide Annahmen zu Strängen desselben Grundmusters eng verflochten. Es liefert die grundlegende Matrix unseres Realitätsverständnisses. Es ist das BIOS unserer Weltsicht, und vielleicht ist das so einfach falsch. Der Biologe und Philosoph Andreas Weber hat das mal sehr schön auf den Punkt gebracht – beide Theorien sind eigentlich eine einzige Supertheorie:

 

„Biologischer, technologischer und sozialer Fortschritt, so lautet das Argument, wird in der Summe durch das Handeln einzelner Egos (egoistische Gene oder Nutzenmaximierer) erzielt, die danach streben, sich gegenseitig aus dem Feld zu schlagen. In diesem Daseinskampf besetzen angepasste Arten (schlagkräftige Konzerne) neue Nischen (Märkte) und steigern ihre Überlebensrate (Profite), während schwächere (weniger effiziente) aussterben (bankrott gehen).“ (Andreas Weber, Enlivement)

 

Diese doppelte Metaphysik, so der Autor, verrät eigentlich mehr über das Selbstverständnis der Gesellschaft, als sie über die biologische Welt aussagt. Der Lebensunterhalt wird in einer Kampfarena bestritten, Überleben bedeutet Siegen und zum Siegen bedarf es Kompetenz. Alles findet subjektlos und selbstorganisiert statt, ewige von außen wirkende Gesetze (die der Selektion und des ökonomischen Überlebens) steuern das Verhalten voneinander isolierter Elemente, indem sie die mehr oder weniger „Fitten“ belohnen oder bestrafen. Der Mensch wird zum "Homo oeconomicus", einem empfindungslosen Automaten, dessen Verhalten durch Algorithmen beschrieben werden kann. Gelebte Erfahrung spielt keine Rolle, das Leben wird nicht in Rechnung gestellt – unterm Strich eine "Metaphysik des Toten".

 

Das Tragische dabei: Eine so tiefe allgemeine Programmierung hat die Kraft, die Wirklichkeit wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung auch genau so zu prägen – wir erleben das gerade.  Wer die Wirklichkeit als tot beschreibt, wird sie entsprechend behandeln, Leben und Lebensprozesse werden problematisch, unzugänglich und suspekt. Sie sterben. 

 

Alles ganz anders 

 

Prüft man die Grundannahmen des beschriebenen Paradigmas, die konsequent ignorieren, dass wir lebendige Wesen in einer lebenden Welt sind, erweisen sich die meisten als falsch.

  • Die Biosphäre ist nicht effizient, sie ist verdammt verschwenderisch. Fische, Amphibien und Insekten müssen Millionen von Eiern legen, um nur wenige Nachkommen durchzubringen. Warmblütige Tiere müssen 90 Prozent ihrer Energie allein dafür aufwenden, ihren Stoffwechsel aufrechtzuerhalten. Verluste werden durch maßlose Vergeudung ausgeglichen.
  • Die Biosphäre wächst nicht – die Gesamtmenge der Biomasse wird kaum größer. Was wächst, sind die Ausdrucksformen. Keine neue Art ist aus dem Kampf um Ressourcen hervorgegangen – im Gegenteil führt die Konkurrenz um eine Nahrungsressource zu biologischer Monotonie, der Dominanz weniger Arten.
  • Ressourcen sind in der Natur alles andere als knapp. Wo sie es werden, führen sie zur Verarmung der Vielfalt. Die grundlegende Energie, das Sonnenlicht, gibt es im Überfluss. In tropischen Regenwäldern oder Korallenriffen, wo Sonnenenergie konstant geschenkt wird, entsteht mehr Artenvielfalt, die symbiotischen Beziehungen nehmen zu und der Konkurrenzkampf ab.
  • Letztendlich fehlt die Idee von Eigentum in der Natur – ein Individuum besitzt nicht einmal seinen eigenen Körper, dessen Substanz in einem permanenten, fließenden Austausch mit der übrigen Welt ist. Aber es ist nicht nur das materielle Angewiesensein, sondern vor allem auch das symbolische: Sprache entsteht erst durch die Gemeinschaft ihrer Sprecher, erst in diesem Prozess bilden sich Identität und Selbstbewusstsein heraus. Verhalten wird erworben, indem es innerhalb einer Art geteilt wird. Individualität entsteht nur durch biologisch geteiltes und kulturell vermitteltes Gemeingut.

 

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Ursache der vielen Krisen, die unsere Zivilisation momentan heimsuchen, darin besteht, dass wir die Wirklichkeit für etwas anderes halten, als sie ist. Wir halten sie für tot, nach mechanischer Rationalität behandelbar. Wir nehmen das Gewebe der schöpferischen Beziehungen und der Verbindungen, die sich beständig entfalten, nicht zur Kenntnis. Wir fühlen es nicht. Es hat keinen nennenswerten Platz in dieser Welt. Nur so konnten wir alle zu vereinzeltem Humankapital werden und unser Planet zu einer schlichten Ressource.

 

Was uns fehlt, ist das: Wir haben vergessen, was es heißt, am Leben zu sein. Erinnern wir uns doch wieder!  


Mensch, versteh doch: Fühle!

Wir verharren angesichts von Ohnmacht im bestenfalls ewig zu streckenden Status Quo. Das ist dann wenigstens nicht die düstere Zukunft, die hoffentlich nie eintritt. Aber die freiwillige Gefangenschaft in der Gegenwart ist schlichter Selbstbetrug. Ein Lösungsvorschlag!