"Die große Beschleunigung" oder warum alles immer schneller wird

(Bild: Bundeszentrale für politische Bildung)
(Bild: Bundeszentrale für politische Bildung)

Eine ganze Reihe von Messzahlen und Kennwerten verändert sich seit vielen Jahren exponentiell, das heißt, in absoluten Zahlen betrachtet: Immer schneller. Das betrifft technologische Entwicklungen genau so wie ökologische, wirtschaftliche ebenso wie gesellschaftliche. Ein Zusammenschluss tausender Wissenschaftler, das International Geosphere-Biosphere Programme, hat für diesen historisch einmaligen Vorgang im Jahr 2015 den Begriff „Die große Beschleunigung“ geprägt.

 

Das große Problem mit der großen Beschleunigung: Wir Menschen haben ein Problem damit, sie zu verstehen – wir sind vom System her eher linear ausgelegt. Unser Kopf sperrt sich dagegen, diese verrückten Zahlen-Sprünge als Realität zu akzeptieren. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Eine exponentielle Entwicklung ist eine Entwicklung, bei der sich die Geschwindigkeit der Veränderung permanent erhöht. Viele Menschen wissen nicht, dass ein konstantes prozentuales Wachstum am Ende eine Exponentialfunktion ergibt. Grafisch dargestellt ergibt sich daraus eine Kurve, die einem auf dem Rücken liegenden Hockey-Schläger ähnelt. Lange Zeit tut sich gar nichts. Die Kurve verläuft nahezu parallel zum Boden. Dann kommt der Teil des Schlägers, der den Ball oder den Puck treffen soll - die Kurve hebt rasant ab und steigt schnell nahezu senkrecht nach oben

 

Ein gedankliches Experiment dazu: Zwei Personen gehen jeweils dreißig Schritte. Der erste macht normale Schritte, der zweite hat Siebenmeilenstiefel an und macht exponentielle Schritte – jeder Schritt ist bei ihm doppelt so lang wie der vorangegangene. Sofort klar: Der erste hat dreißig Schritte gemacht – aber wie ist das jetzt beim zweiten? Schätzen Sie mal! Tja, Hmm … also er ist sage und schreibe 30 mal um den Erdball gegangen. Verrückt! 

 

Den Klassiker der Beispiele des Psychologen Shane Frederick haben gut die Hälfte seiner 44.000 Versuchspersonen falsch beantwortet: "Die Seerosen in einem Teich verdoppeln ihre Fläche jeden Tag. Wenn der See nach 48 Tagen komplett mit Seerosen bedeckt ist, wie lange hat es gedauert, bis er zur Hälfte bedeckt war?" Auch wenn unsere Intuition spontan zu 24 Tagen als Antwort neigt, liegen wir damit komplett daneben - die Antwort lautet 47. 

 

Momentan können wir das Phänomen auch „live“ bei Corona mitverfolgen – einer steckt zwei an und schon haben wir innerhalb kurzer Zeit den größten aller erdenklichen Salate: Die exponentielle Verbreitung mit riesigen Infiziertenzahlen. Deshalb ist es so wichtig, die Infektionsketten zu unterbrechen.


„Die größte Schwäche der Menschen ist ihre Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen.“ (Al Bartlett, Physiker)


Das ewige politische Mantra: Wachstum!

 

Was neoliberale Wirtschaftswissenschaftler nun nicht so besonders gerne erörtern, ist die Bedeutung der Exponentialfunktion für unser Wachstumsparadigma. Ein konstantes Wirtschaftswachstum von drei Prozent pro Jahr sorgt dafür, dass sich die Größe einer Volkswirtschaft in 24 Jahren verdoppelt. Trotzdem verkünden verantwortliche Politiker jedes Jahr dasselbe Ziel: Wachstum – je mehr, desto besser. Was sie nicht sagen: Dieses exponentielle Wirtschaftswachstum verbraucht natürlich exponentiell mehr Ressourcen, produziert exponentiell mehr Abfall und Giftstoffe - und pumpt letztendlich exponentiell mehr CO2 in die Atmosphäre. Immer noch. Aller Verträge und Absichtserklärungen zum Trotz. Alles geht immer schneller immer noch in die falsche Richtung. Und wenn wir lange genug warten, bevor wir wirklich etwas ändern, endet das mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer großen Katastrophe!  


„Unser gegenwärtiges System ist nicht ‚kaputt‘ – das System tut genau das, was es tun soll und wozu

es bestimmt ist. Es kann nicht mehr ‚repariert‘ werden. Wir brauchen ein neues System.“

(Greta Thunberg und Luisa Neubauer, Fridays For Future) 


Dieser Satz ist aus dem Brief, den die Klimaaktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer kurz vor dem Gipfel zum Corona-Wiederaufbauplan an die EU schrieben. Das Schreiben hatten auch führende Klimaforscher sowie Prominente wie der Hollywood-Star Leonardo DiCaprio und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai unterzeichnet. Unser System basiert auf Wachstum - es kollabiert ohne. Logischer Schluss: Wir brauchen ein neues. Sonst wird uns dieses Wachstum umbringen. 

 

Die haben das mit der Exponentialfunktion offensichtlich begriffen.  

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