Nur wer sein Gehirn versteht, versteht auch seinen Stress.

Wie wir unser Gehirn verschalten

 

Sie haben das sicher schon einmal gesehen: Diese faszinierenden Zeitraffer-Filme, die das Entstehen und Verändern einer Landschaft über Jahrzehnte in nur wenigen Sekunden zeigen. Neue Straßen entstehen, Bestehende werden ausgebaut oder verschwinden langsam, neue Autobahnen durchziehen die Landschaft. Das Netzwerk von Straßen und Wegen verändert sich ständig durch neue Erfordernisse und Gegebenheiten, es wird ständig angepasst an die momentanen Bedürfnisse und Schwerpunkte. Es ist dieses Bild, daß einen der größten Durchbrüche auf dem Gebiet der Hirnforschung in diesem Jahrhundert beschreibt, den „experience-dependent plasticity of neuronal networks“. Nennen wir es einfach mal den „erfahrungsabhängigen Gehirnumbau“. Gemeint ist damit die Verkümmerung oder Festigung zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn in Abhängigkeit von ihrer Benutzung. Übersetzt: Was wir immer wieder denken, was wir immer wieder empfinden, was wir immer wieder tun, bestimmt die Art und Weise, in der die Verschaltungen in unserem Gehirn angelegt sind. Es macht einen Unterschied, jeden Abend vor dem Fernseher zu sitzen, einem Hobby nachzugehen oder Klavier zu spielen – für jede dieser Beschäftigungen benutzen wir unterschiedliche Verbindungen zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn. Forscher nennen sie „neuronal pathways“.

 

Um noch einmal auf das oben angelegte Bild des Zeitraffer-Films zurückzukommen: Auch in unserem Gehirn gibt es (unzählige) Pfade. Was nun aber ein Weg wird, was eine Straße oder sogar eine Autobahn, bestimmen wir selbst. Und da wir überaus ökonomisch angelegt sind, benutzen wir in der Folge dann am liebsten die schnellsten Wege. Was schließlich zu dem Problem führen kann, dass wir selbst dann auf die Autobahn geraten, wenn sie gar nicht dahin führt, wo wir eigentlich hin wollen. Schon erlebt? Dann wissen Sie ja, worüber wir reden …

Uronkel Dino lässt grüßen!

 

Ganz im Gegensatz zu unseren frühen Vorfahren - nehmen wir mal die Dinosaurier - bauen wir uns unsere Verschaltungen also zum großen Teil selbst. Uronkel Dino hatte noch feste Verschaltungen im Hirn, die durch ein genetisches Programm festgelegt waren. Sie kennen die Geschichte: Es hat ihn nicht wirklich weit gebracht … wir graben ihn heute nur zufällig hier und da noch aus. Eine Familieneigenschaft allerdings haben wir noch gemeinsam: Unser selbstgebautes Gehirn tendiert im Laufe unseres Lebens dazu, ein ebenso festgefügtes Verbindungsgeflecht zu erzeugen wie das von Onkel Dino. Wir haben also das gleiche Problem, wenn wir so etwas wie einer neuen Bedrohung begegnen: Wir kommen mit unseren eingefahrenen Strategien nicht weiter, langsam aber sicher machen sich Resignation und vor allem Angst und Stress breit. Gott sei Dank hat sich aber seit den frühen Tagen unseres langen Stammbaums etwas getan: Uns wurde die Möglichkeit der Programmänderung in die Wiege gelegt, weshalb es unsere Spezies noch gibt!

 

Die Stressreaktion - der große Modellierer

 

Jetzt wird es wirklich spannend: Unsere Stresshormone bringen uns nicht nur in (angemessene) Verteidigungs- und Kampfbereitschaft, sondern irgendwann, wenn alles nicht hinhaut, beginnen sie auf unser Gehirn zu wirken. Eine fortwährende Ausschüttung der Stresshormone führt zu einer Veränderung der Verbindungseigenschaften und einer Auflösung von Verbindungen, um sich für neue Verschaltungen zu öffnen. Im Gegensatz zu Onkel Dino sind wir also für Programmänderungen offen, unsere Verschaltungen sind remodellierbar. Offenbar ist die Stressreaktion der große Modellierer, der die Sackgassen in unserem Gehirn auflöst und neue Wege ermöglicht. Und es ist fast schon als unheimlich schlau zu bezeichnen, dass der Auslöser dieser Programmänderungs-Eigenschaft kurz „Angst“ heißt.

Wenn die Alarmglocken läuten

 

Wir haben das alle schon erlebt: Dieses Gefühl, das aus dem Bauch kommt und sich bis in die letzte Haarwurzel ausbreitet. Das Herz rast, der Puls pocht, die Hände werden feucht (Und bis heute weiß keiner so wirklich, warum!). Etwas Unerwartetes scheint uns zu bedrohen. Die Alarmglocken im Gehirn beginnen zu läuten, es werden chemische Alarmmelder in den Kreislauf gebracht. Stellen Sie es sich so vor: In Ihrem Gehirn explodiert gerade ein Feuerwerk von Impulsen, die durch alle Leitungen rasen und fieberhaft nach einer Verschaltung suchen, die das Problem löst. Gleichzeitig wird der Körper in höchste Alarmbereitschaft versetzt – Kämpfen oder Flüchten? Das ist jetzt die Frage. Die Erregung des Gehirns ergreift den gesamten Körper: Die Nebennieren schmeißen alles Adrenalin, welches sie haben, in die Blutbahnen, welche gleichzeitig eng gestellt werden, das Herz fährt hoch, die Muskulatur spannt sich an, die Pupillen werden weit und die Haare stehen quasi zu Berge. 

 

An diesem Punkt nun gibt es zwei mögliche Entwicklungen: Sie lösen das Problem, die Bedrohung schrumpft zu einer Herausforderung, die Angst verwandelt sich in Zuversicht und Sie gewinnen neben einer neuen Erfahrung Mut und Zuversicht für die Zukunft. Gut gemacht! Scheitern wir allerdings mit unseren Lösungsversuchen, wird aus Angst Verzweiflung, Ohnmacht, Unglück und Mutlosigkeit. Und je länger dieser Zustand anhält, desto schwerwiegender sind seine Folgen für die Gesundheit, denn die permanente Überflutung unseres Körpers mit Stresshormonen hat Auswirkungen auf die verschiedensten Organe und deren Funktionen.


Tipp zur Coronakrise: "Wichtig ist es, sich darüber bewusst zu sein und die eigenen Ängste nicht zu verdrängen.  Ich empfehle, sich an bewährten Bewältigungsstrategien zu orientieren, wie Ablenkung; das kann für den einen eine spannende Serie, für den anderen ein größeres Projekt oder das Gespräch mit Freunden sein. Neben einem reellen Optimismus führen auch Humor, Akzeptanz, Disziplin und Selbstwirksamkeit zu mehr Stresskompetenz. Ebenso kann das Niederschreiben des Erlebten und der eigenen Gedanken der Stressverarbeitung dienen. Keine geeignete Strategie dagegen ist der Versuch, die Emotionen mit dem Konsum von Tabak, Alkohol, Drogen oder übermäßigem Medikamentengebrauch zu regulieren." (Nicole Joisten, Psychologin und Psychotherapeutin)


Go into the flow

 

Vielleicht sollten wir uns zunächst klarmachen, dass die richtige Portion Stress für uns notwendig und gesund ist. Denn unser Körper reagiert sowohl auf ein Zuviel als auch auf ein Zuwenig an Stress. Haben wir zu wenig davon, sinkt unsere Fähigkeit zur Stresskompensation, in der Folge können wir schon kleinste Alltagsbelastungen nicht mehr wegstecken. Bedenken wir die Modellierungsfunktion des Stresses auf unser Gehirn, so lässt sich schließen, dass unsere innere Entwicklung dadurch ins Stocken gerät. Hier liegt ganz sicher die Erklärung dafür, warum wir im „Flow“ den genau richtigen Grad zwischen An- und Überforderung finden – die optimale Voraussetzung für persönliches Wachstum. Den Zahlen zufolge haben aber immer mehr Menschen ein Problem genau damit! Dazu empfinden sie immer mehr Disstress (negativ empfundene Belastung von außen) und immer weniger Eustress (positiv empfundene Herausforderung): Das Leben wird als Last empfunden. (Hier sei angefügt, dass führende Wissenschaftler diese Stress-Unterscheidung für Unfug halten, sie sei vielmehr eine kulturelle Verkleidung für echte psychiatrische Krankheitsbilder: Prof. Manfred Spitzer vergleicht dies in einem Vortrag sehr pointiert mit Wein - es gäbe schießlich auch keinen Eu- und Disrotwein.)

 

Ihr Körper wird in einen ständigen Zustand der Alarmbereitschaft versetzt und gelangt letztendlich in ein Stadium der Erschöpfung, verbunden mit ernsthaften Organerkrankungen, psychischen Störungen und einer erheblichen Abschwächung der Immunkompetenz. Leider greifen viele in dieser Situation zur Kompensation durch Drogen und ungesunde Ernährung, was die Situation zusätzlich verschärft. Aber was genau ist nun ein "Burnout"?

Burnout – wenn Stress krank macht

 

Ausgepowert, erschöpft, völlig am Ende – das Bild des „Ausgebranntseins“ kennen wir alle mehr oder weniger aus unserem Umfeld. Burnout ist in der heutigen Arbeitswelt ein gravierendes Problem, das sich bei 6-7% aller Arbeitenden, in bestimmten Berufsgruppen jedoch bei über 20% der Fälle finden lässt. Dennoch hat es der Burnout bis heute nicht zu einer als eigenständig anerkannten Krankheit im medizinischen Sinn geschafft, sondern wird als Ansammlung verschiedener Anzeichen und Symptome definiert, die sich aus einer fortlaufenden Überlastung durch bestimmte Stressoren ergibt: Emotionale und körperliche Erschöpfung, eine negative Einstellung und verminderte Leistungsfähigkeit sind die gemeinsamen Nenner, die sich auf der individuellen Ebene in zahlreichen emotionalen, kognitiven und körperlichen Symptome ausdrücken. Sollten Sie Anzeichen von Burnout bei sich feststellen, dann lassen Sie sich unbedingt helfen. Denn unbehandelt hat der Burnout das Potential, sich zu einer handfesten Depression zu entwickeln. Umweltfaktoren wie Stress führen zu epigenetischen Veränderungen im Erbgut, die einerseits das Depressionsrisiko steigern, andrerseits aber durch geeignete Therapien und Präventionsmaßnahmen gut umkehrbar sind.

 

Das Geheimnis der richtigen Antwort

 

In einem Punkt sind sich alle Experten einig: Zwar profitiert auch der moderne Mensch hinsichtlich seiner Reaktionsbereitschaft von der Stressantwort, allerdings ist sie unter den Bedingungen des heutigen Alltags meist überdimensioniert. In der Regel kämpfen wir im Büro oder im Discounter nicht um unser Leben, sondern höchstens um die letzten Schnäppchen. Dazu lebten unsere wilden Vorfahren ihre Anspannung auch motorisch aus, etwas, was bei vielen Menschen heute einfach viel zu kurz kommt. Womit schon die zwei Pole einer angemessenen Antwort abgesteckt sind: Üben Sie, das Leben entspannt anzugehen! Trennen Sie, was Ihnen wirklich wichtig ist und was Sie getrost an sich vorbeilaufen lassen können. Enttarnen Sie dumme Trugbilder, von denen es heute viel zu viele gibt, aber immer noch laufen leider Scharen von Menschen hinter ihnen her. Ernähren Sie sich gesund! Und zu guter Letzt: Bewegen Sie sich regelmäßig. 

 

Corona: Was tun in Zeiten der Krise?

 

Aller Voraussicht nach stehen wir vor schwierigen, herausfordernden Zeiten – die Auswirkungen der Corona-Krise werden über die momentan gravierenden Einschränkungen hinaus unsere Leben wohl auf Jahre beeinflussen – die Welt wird sich verändern. Das bedeutet für jeden von uns neue Herausforderungen, die wir meistern müssen. Versuchen Sie, bei der Bewältigung Ihren richtigen Grad zwischen Über- und Unterforderung zu finden und achten Sie darauf, Ihre persönlichen Stressoren im gesunden Rahmen zu halten. Wir wünschen Ihnen dazu die nötige positive Energie, Entschlossenheit und gute Portion Glück, die man immer brauchen kann. Bleiben Sie gesund! 

 

Hier noch ein paar Tipps, die man bei der momentan akuten Situation beherzigen sollte:

  • Nutzen Sie verlässliche Quellen, um sich über das neue Coronavirus zu informieren. Auf dem Laufenden zu bleiben ist wichtig, Pausen aber ebenso. Eine ständige Beschäftigung mit Corona-Meldungen kann ebenso verunsichern und Ängste schüren wie Falschmeldungen.
  • Gestalten Sie Ihren Tag so bewusst wie möglich: Geben Sie sich einen festen Tagesablauf und halten Sie gewohnte Routinen bei – aufstehen zu bestimmten Zeiten, regelmäßig essen, arbeiten, lernen, sich bewegen, abschalten. Eine solche Struktur gibt Halt und Sinn und beugt schlechter Stimmung vor.
  • Schlafen Sie genügend, essen Sie abwechslungsreich und mit viel frischen Zutaten, machen Sie zu Hause Sport. Tun Sie sich zwischendurch etwas Gutes. Gehen Sie mit Drogen wie Alkohol und anderen Rauschmitteln bewusst und zurückhaltend um.
  • Bleiben Sie digital verbunden: Gehen Sie mit Videochats, Telefonaten, Textnachrichten mit Menschen in Kontakt, die Ihnen wichtig sind. Sprechen Sie über das, was Sie beschäftigt.
  • Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie tun können, und akzeptieren Sie die Dinge, die Sie nicht ändern können. Smartphone-Apps mit Achtsamkeits- und Entspannungsübungen helfen zusätzlich. Machen Sie sich bewusst, dass Sie gerade all das auf sich nehmen, um anderen Menschen das Leben zu retten.
  • Wenden Sie sich an einen Profi, wenn Ihnen alles zu viel wird – vor allem dann, wenn Sie mit Ängsten, starker Anspannung, Reizbarkeit und depressiven Stimmungen zu tun haben. Oft helfen schon einige Onlinesitzungen mit einer Psychotherapeutin. Viele Psychotherapeuten haben auf digitale Therapie umgerüstet.